Mittwoch, 8. Mai 2019


Beitrag aus Eifeljahrbuch 1989

Glückliche Rettung auf Sohle 200
      oder die verspätete Weihnacht
                                    

           Eine Bergwerksgeschichte

                                    Edgar Fass


Eisig rauscht der Wind durch das Gehölz über dem Talgrund und fegt der kleinem Gruppe Männer Schneekristalle ins wettergegerbte und von der Mühsal des Alltags gezeichnete Gesicht.In der einen Hand kämpft die spärliche Flamme der Karbid-Grubenlampe gegen das Erlöschen,während die andere Hand fest die Tasche mit dem kargen Essvorrat und der teegefüllten Blechflasche für die bevorstehende Schicht im Erzbergwerk Glückstal umklammert. Bis auf den üblichen Bergmannsgruß "Glück auf" spricht niemand ein Wort an diesem kalten Wintermorgen.

Nur hin und wieder unterbricht ein trockener Husten oder das Paffen einer Pfeife die Stille.Das fahle Dämmerlicht des frühen Morgens und das Schneetreiben am Tage des Heiligen Abends lassen nur schemenhaft die Umrisse des kleinen Eifeldorfes erkennen.Mühsam bahnen sich die Füße einen Weg durch den hohen Schnee des ausgetretenen Pfades.Das ununterbrochene Zischen und Stampfen der Dampfmaschine kündigt das Nahen der Bergwerksanlage an.

Bald tauchen das Stahlgerüst des Förderturmes und die Gebäude der Tagesanlage der Grube im dunstigen  und wolkenverhangenen Himmel vor ihnen auf.Gerade verlassen einige Loren ratternd den Korb,aus denen müde,verstaubte und verschwitzte Gesichter hervorlugen.

Bald aber kommt Leben in die Gruppe dieser Bergarbeiter,die ihre Schicht beendet haben."Glück auf" schallt es den zur Schichtübernahme angekommenen Kameraden entgegen. Die Männer kennen sich untereinander schon lange auf der Bleierzgrube, im Sprachgebrauch "Pütt" genannt. Sie kommen alle aus den nahen Dörfern oder den angrenzenden Gemeinden der Umgebung.Niemand fährt freiwillig in den Berg mit dem Blei, alle treibt sie die Not und bittere Armut und die Aussicht auf ein bisschen Geld unter Tage. Die Landwirtschaft auf den steilen und steinigen Äckern und feuchten Talwiesen gibt nicht ausreichend Brot, um die Familie mit den zahlreichen hungrigen Mägen zu ernähren.Auch die Arbeit als Tagelöhner in der Forstwirtschaft oder den Sägewerken bringt nicht viel.Andere Industrie oder Erwerbsmöglichkeiten gibt es in diesem verlassenen Winkel der Eifel nicht.
Sie alle wissen um die gefährliche schleichende Wirkung des Bleistaubs,der den Lungen zusetzt und den Körper allmählich vergiftet.Das tägliche Glas Milch nach jeder Schicht als Gegenmittel kann da auch nicht viel helfen. Den meisten Bergleuten fehlen nach jahrelanger Arbeit im Blei bereits die Zähne.Sie kennen dieses untrügliche Zeichen der fortgeschrittenen  schleichenden Vergiftung.Es dauert dann nicht mehr lange, bis es mit der Arbeit im Pütt vorbei ist.Dann fesselt sie die "Bleikränk", die schon viele vor ihnen dahinsiechen ließ. ans Haus und den Platz am Ofen. Läßt sich halt nicht ändern, so geht es ihnen durch den Kopf, diese Schicht noch, dann bin ich zum Weihnachtsfest wieder daheim im trauten Kreis der Familie.Mit den wenigen übrig gebliebenen Groschen erstand man für die Kinder einige Spielsachen aus einfachem Holz. Dazu kommt ein Teller mit Plätzchen und für jeden ein Bratapfel.Nach der Christmette gibt es für alle nach langer Zeit endlich wieder ein Stück Fleisch.In der ärmlichen Stube hat die Frau einen kleinen Christbaum aufgestellt,der dann mit Silberkugeln geschmückt im Kerzenschein erstrahlt. Darunter findet sich dann die Kinderschar mit leuchtenden Augen ein.Noch einige Stunden harte Arbeit, dann ist endlich mal Ruhe für die geschundenen und schmerzenden Gelenke.

Da reißt sie die schneidende Stimme des Reviersteigers jäh aus ihren Träumen." Glück auf ihr Männer, vüran jemaat, de Berch waart op üch" ,so hallt es durch den kalten Wintermorgen. Sie kennen ihn nur zu gut. Sein strenges und militärisches Auftreten macht ihn zum unbeliebtesten Mann der Belegschaft.Immer wieder treibt er die ermüdeten Kräfte zur Arbeit an.Ein kurzes Rasten oder Verschnaufen außerhalb der wenigen Pausen duldet er nicht.Er taucht oft unvermittelt aus dem Dunkel  des Stollens auf oder steht hinter einem der hölzernen Grubenpfeiler, um dann unerwartet hervorzutreten und die Kumpel zurechtzuweisen oder zu tadeln, wenn ihm die Arbeit nicht schnell genug vonstatten geht.Die Arbeit vor Ort, in der nur von ihren Karbidlampen  spärlich erhellten stickigen Luft, macht den Männern im Stollen zu schaffen. Keuchend und rasselnd geht der Atem,während der schwere Presslufthammer schmerzhaft in den ungeschützten Ohren dröhnt.Die misstrauischen Augen des Reviersteigers wachen über alles. Wen er beim heimlichen  Wegstecken einer der schönen und bei Sammlern begehrten Erzstufen ertappt, meldet er unbarmherzig der Grubenleitung, was sofortige Kündigung zur Folge hat. Er scheint ständig im Einsatz zu sein. Mal gibt er den Hauern vor Ort fachmännisch Anweisungen, prüft in der Sprengkammer die Mischung des Pulvers, untersucht einen Erzklumpen oder begutachtet frisch geliefertes Grubenholz.

Die Untergebenen müssen ihn halt ertragen. Dafür sind seine Maßnahmen zwecks Steigerung der Förderkapazitäten und Kenntnisse von Geologie und Bergbautechnik von der Grubenleitung und den Besitzern geschätzt.Bei den Festlichkeiten im Dörfchen oder der einzigen Wirtschaft ist er nur selten zu Gast, und dem sonntäglichen Gottesdienst in der Pfarrkirche bleibt er fern.Er war ein Fremder, Eingeheirateter in der Eifel und blieb den Einheimischen fremd.

Die Kumpel stellen in einem kleinen Seitenraum der Tagesanlage ihre Tasche ab und hängen ihre Wollmäntel und handgestrickte Pullover neben der Wasche an die für sie reservierten Plätze und vertauschen sie mit bleigrauen Gummisachen. Diese wasserdichte Kleidung schützt sie einigermaßen vor den unablässig von der Stollendecke herabregnenden Tropfen. Helme zum Schutz gegen herabstürzendes Gestein kennen sie nicht.Der Streb im eichenhölzernen Schildausbau sichert die Bergleute.Bei einem Einsturz der bröckligen Gesteinsdecke und Durchschlagen des hölzernen Schutzschildes würden ihnen selbst Helme nicht viel nützen. Diese Gefahr ist immer gegenwärtig,denn in der Tiefe lastet der Berg schwer auf den Stollendecken. Gemeinsam marschieren die Männer der Frühschicht in einer Reihe zum Fahrschacht. Dort wartet bereits der Förderkorb. Der Förderkorb ist derFahrstuhl, ein großes eisernes Gestell mit mehreren Etagen. Auf den Böden sind Gleisstücke montiert,  an der Wand hängen Ketten zum festhalten. Mit einem Schlagkolben hämmert der Reviersteiger dreimal gegen das Eisenblech am Gitter des Fahrkorbes, das Zeichen der Fahrbereitschaft für den Maschinisten der Förderanlage.  Das Schutzgitter rasselt runter,  ein kurzer Ruck,  und schon gleitet der Korb mit den Grubenarbeitern langsam und stetig abwärts in den Schacht. Es ist dunkel, durch die Sicherheitsgitter links und rechts sieht man das Mauerwerk,die Spurlatten vorbei huschen.Es zieht vom Fahrtwind, man spürt ein leichtes Druckgefühl in den Ohren. Nach einer kurzen Zeitspanne erreichen sie den Füllort  auf der mit 200 m tiefsten Sohle der Schachtanlage.Ein zweimaliges kräftiges Klopfen mit dem Hämmerchen gegen das Eisenblech signalisiert dem Maschinisten das Verlassen und Entladen des Förderkorbs.  Die Männer stehen in einem hallenartigen und erleuchteten Raum, wo Material oder "Berge" ankommen. Hier unten weht eine kühle Brise,  der Wetterstrom,  der unverbrauchte Luft zuführt.

In einer zum Stall ausgebauten Nische wartet der Fuhrmann mit dem Grubenpferd Fritz,  einem kräftigen Tier der sog. belgischen Rasse.Es ist ein treues Geschöpf und allen im Laufe der Zeit ans Herz gewachsen.  Viele jahre verbrachte es in der Dunkelheit des Berges und zieht unermüdlich tagein,  tagaus die Kipploren auf den Schmalspurgleisen  durch die nur von seiner Laterne spärlich erhellten Stollengänge zum Förderschacht.Ungezählte Kilometer hat es so mit schwerer Last zurückgelegt. Der Lichtmangel ließ das Arbeitspferd nahezu erblinden. Es wird wohl bald das Los aller Grubenpferde teilen,  die blind und verstaubt im Dunkel das Zeitliche segnen.  Schnaubend und mit traurigen Augen steht Fritz in seinem Bretterschlag. Eine Portion Hafer brachte ihn nach der letzten Streckentour wieder zu Kräften. Der Fuhrmann tätschelt ihm anerkennend den Hals und führt es dann behutsam zu den mit den männern und ihrem Arbeitsgerät beladenen Loren. Bald ist es im Geschirr angespannt. Nach dem Befehl "jöh" zieht das Grubenpferd langsam an. Trotz der drohenden Erblindung findet es dank der Lenkung mit dem Zaumzeug  noch immer sicher seinen Weg. Der Zug biegt in das Dunkel der Richtstrecke ein und ist nach etwa 1200 m am Ziel, dem Ende der Ausbaustrecke. Zu Fuß geht es dann weiter zur Sohle, zum Streb,dem Abbau vor Ort.Der Weg ist abschüssig, die stickige und feuchte Luft macht den Atem schwer, Wasser tropft von den Wänden. Die Augen der Männer gewöhnen sich nur langsam an die spärlich von ihren Karbidlampen erhellte Dunkelheit.

Die Schicht besteht wie üblich aus 12 Personen. Neben dem Reviersteiger und dem Sprengmeister sind es 3 Hauer, die vor Ort mit dem Presslufthammer arbeiten, 2 Zimmerer,die den neuen Streckenvortrieb mit dem Grubenholz sichern und 4 "Schlepper". Die Arbeit der letztgenannten besteht darin, nach der Sprengung den Gesteinsschutt in die Seitenwände des aufgelassenen Stollens zu verpacken, größere Felsbrocken nit Hammer und Schlegel zu zerkleinen, Überhänge mit der Keilhaue von Wänden und Decke zu lösen und das Beladen der Loren mit dem aussortierten erzhaltigen Gestein. Letzter aus der Gruppe ist der bereits erwähnte Fuhrmann.

Nach der Ankunft überprüft der Reviersteiger kurz das Arbeitsgerät der Männer, ob die keilhauen und Schlegel vom Dorfschmied auch scharf genug geschliffen sind. Das anstehende harte und zähe Gestein läßt die Werkzeuge schnell stumpf werden.Prüfend fährt seine Hand über die Eisenspitzen.Brummend händigt er den Schleppern das Handwerkszeug aus.Er gibt kurz Anweisung an den Fuhrmann, dass die Zimmerleute gegen 12.00 Uhr Mittag mit einigen Loren Grubenholz vor Ort eintreffen sollen.Wegen des Bergdrucks können sie auf dieser tiefen Sohle nur dickstämmiges und bestes Eichenholz aus dem Gemeindewald verbauen. Eine bestellte Fuhre soll vormittags vom Lieferanten  mit Pferdegespann noch gebracht werden, denn der Vorrat ist aufgebraucht. Seine letzte Frage an den Sprengmeister und Grubeningenieur gilt den Pumpen, ob diese auf Hochtouren laufen. Denn bei der fortschreitenden Tiefe strömt zunehmend Grubenwasser ein.

                                       
                                        Der alte Stollenrundbogen vom Christianschacht im Glückstal ( s. Anm.)
Dann kommt sein kurzer und strenger Befehl: "Auf Männer, an die Arbeit".Noch ein hastiger Schluck heißen Tees aus der Aluminiumflasche, dann nimmt jeder seine Karbidlampe und das ihm bestimmte Arbeitsgerät und begibt sich vor Ort.
Im Dörfchen sind sie inzwischen auch schon emsig bei der Arbeit.Für das Weihnachtsfest will man gerüstet sein,  und es gibt noch viel zu tun.Das Vieh im engen Stall muß versorgt werden, die Stuben sind zu putzen, und das Weihnachtsbäumchen wartet noch auf seinen Festtagsschmuck. Die Mutter schickt die älteren Kinder zum Häckseln und Strohschneiden und zu Füttern der blökenden Kühe in den Stall.Bis zur abendlichen Christmette um 22.00 Uhr soll alles fertig sein. Da ist ja auch noch der Braten herzurichten, die Kleinsten zu versorgen und der Gabentisch zu bereiten.

Der abends von der Arbeit müde heimkehrende Vater soll nicht mehr mit anpacken brauchen  und sich erst einmal auf der Bank am Ofen ausstrecken können, bevor es zur Kirche geht.So vergehen die Stunden mit emsiger Arbeit.Mit krummgebeugten Rücken sind die älteren  Leute dabei,  die Dorfstraße mit Reisigbesen vom Schnee zu säubern.

In der Tiefe des Berges verzieht gerade die Rauch- und Staubwolke nach der letzten Sprengung.Nur schemenhaft sind die Bergmänner in ihrer grauen Kluft auszumachen.Sie müssen schreien, um sich verständlich zu machen.Der Reviersteiger sieht fragend zu dem Sprengmeister der Grube hinüber.Dieser nickt und sagt im derben Eifeler Platt der Einheimischen: " Mir könne john."
Langsam tasten sie sich über das aus der Wand gesprengte erzhaltige Gestein zum neuen Streckenvortrieb.Die Luft ist noch mit beißendem Pulvergeruch und einem dichten Staubschleier erfüllt. Dieser verzieht sich jedoch bald in Richtung des vor kurzem neu eingebauten Belüftungsschachtes.
Metallisch schimmert der Bleiglanz im fahlen flackernden Licht ihrer Grubenlampen.Die Erzader erweiterte sich von bisher nur Armdicke auf unerwartet 1/2m Mächtigkeit,  stellt der Reviersteiger angenehm überrascht fest.Der Boden und die Wände sind durch die feinen aufgewirbelten Bleiglanzpartikel silbrig wie mit einer Rauhreifschicht bedeckt. Es bietet sich ihnen ein märchenhafter Anblick.


  Igelförmiger Kappenquarz (Bergkristall) von der Grube Glückstal/Eifel
                                       

Da schillert und funkelt es in allen Farbtönen über kupferrot,  bronzegelb und blattgrün der verschiedenen Mineralien.Edelsteingleich leuchten in den Hohlräumen der Gesteinsschichten igelförmige Gruppen von zentimetergroßern Bergkristallen und Quarzen. Neben der Bleierzader sind in dem angrenzenden Gestein nesterweise verteilte faustgroße Einschlüsse von Kupfermineralien, die in den Farbtönen von goldgelb über mattgrün bis purpurviolett strahlen.Auch an Schwerspat, einem für Erdölbohrungen  gesuchtem Ballaststoff, mangelt es nicht.

Der Reviersteiger klaubt einen Brocken Erz vom Boden auf und wiegt ihn abschätzend in der Hand.Das bringt reichlich Ausbeute und einige Loren gutes Erz,überlegt er sich. Hoffentlich verhindert der viele Neuschnee nicht die Anlieferung des zum Stollenausbau benötigten Grubenholzes. Vermehrt von der Decke herabtropfendes Wasser und abbrechendes Gestein an den Wänden mahnen zur Vorssicht. Das anstehende Schiefergestein scheint diesmal ziemlich porös und brüchig zu sein. "Schiefersteen", brummt der Sprengmeister, "do bruche me joodes Eecheholz zo bascht".Der Reviersteiger entgegnet: "Lure me noh, op dat Jroveholz anjekumme es, sons stomme do". Sie kommen beim Zurückgehen an den Männern vorbei,  die im alten Streckenabschnitt noch taubes Abraumgestein in den Seitenwänden verbauen.
Im dämmrigen Licht markieren das Weiße im Auge oder eine Zahnreihe im verstaubten Gesicht den mutigen Menschen im Gebirge."Männ, beiilt üch, et kütt vell Arbeet op üch zo". Er läßt sich mit einer halb beladenen Lore zum Förderschacht zurückbringen und per Förderkorb ans Tageslicht bringen.

Oben erwarten ihn schon der Bergwerksdirektor und die Zimmerleute mit ernster Miene.Der dringend erwartete Holztransport war nicht angekommen.Ein Bote brachte die böse Nachricht, dass die Fuhrwerke im Münstereifeler Wald wegen des tiefen Neuschnees steckenblieben und die Lieferung daher erst nach dem Fest möglich sei."Bis dahin können wir nicht warten",meint der Bergwerksdirektor zum Reviersteiger,  "die Arbeit darf nicht unterbrochen werden. Es steht sonst die Existenz unserer Grube auf dem Spiel. Die Straße talabwärts zum Verladebahnhof Schuld ist für unsere Erzfuhrwerke noch einigermaßen passierbar, und nach den Feiertagen braucht man in der Erzschmelze dringend unser Rohblei,  damit die Lieferfristen gegenüber der Industrie eingehalten werden. Bleierz wird im Moment überall auf der Welt von der Konkurrenz spottbillig angeboten,  da ist mehr Angebot als Nachfrage.Einen Ausfall dürfen wir uns nicht erlauben, koste es,  was es wolle. Das würde den Verlust unseres Abnehmers bedeuten, und ihr alle verliert wie die da unten eure Stelle, mehr brauche ich wohl nicht zu sagen.Also, worauf wartet ihr noch". Er sah ungeduldig auf seine silberne Taschenuhr,steckte sich eine dicke Zigarre an und ging von dannen.
"Ich sehe,  was sich machen läßt", rief der Reviersteiger ihm nach und lüftete kurz seine Militärmütze, ein Überbleibsel vom letzten Krieg.

Dann lässt er sich wieder vor Ort bringen. Er weiß, dass ihnen keine andere Wahl bleibt,  ansonsten kostet es den Job. Er muss die Männer trotz der Einsturzgefahr im noch nicht gesicherten Streckenabschnitt arbeiten und das Verladen des Erzes durchführen lassen.
"Herhüre, Männ" spricht er mit heiserer Stimme die Kumpel vor Ort an." Das scheußliche Wetter ließ den Transport des frischen Grubenholzes nicht zu. Unsere Grubenleitung besteht darauf,  dass das in dieser Schicht gesprengte Erz noch abgebaut und zutage gefördert wird.Es geht um die unbedingte Einhaltung der Vertragslieferung an die Schmelzhütte im Tal,  darum müssen wir es wagen".Er blickt in ihre verstaubten,  verschwitzten Gesichter,  aus denen ihn Augen ernst ansehen. Aber kein Murren oder ablehnendes Wort kommt über ihre Lippen. Sie sehen sich gegenseitig schweigend an,  einige schütteln den Kopf. Schließlich nimmt die Arbeitsgruppe wortlos ihre Schaufeln, Keilhauen und schweren Hämmer und geht zum Stollenaufriß in die Dunkelheit des Berges hinein.

Der Reviersteiger ruft die Hauer zu sich,  um einen weiteren Streckenvortrieb zu beratschlagen. Bald darauf erfüllt das Dröhnen der Hammerschläge und Pochen der Keilhauen den unterirdischen Gang. Das Zusammenspiel in der Gruppe funktioniert wie gewohnt. "Vell Erz un vell Arbeet",  keucht einer der Männer. Aber ihnen ist im Angesicht der Gefahr nicht ganz wohl. " Seht nur die Risse in der spröden Wand",  deutet der Älteste und Erfahrenste von Ihnen auf eine tiefe Gesteinsspalte,  aus der sich bei jedem Hammerschlag kleine Stücke lösen. "Hoffentlich geht das gut",  meint sein Gegenüber und verzieht bedenklich das Gesicht. Unsere Schicht muss es schaffen", meint sein früherer Klassenkamerad aus gemeinsamen Tagen in der Dorfschule, "sonst tobt der Alte und unseren Posten sind wir auch los"." Morgen ist Weihnachten", entfährt es einem schmächtigen Jungknappen mit blassem Gesicht, " da darf ich nicht mit Entlassungspapieren zu Hause ankommen. Neue Arbeitskräfte findet der Anwerber vom Pütt bei den vielen Arbeitslosen mehr als genug. Und wo finde ich neue Arbeit?". " Watt soll et, et wed at joot john", meint ihr Grubenältester und Wortführer. " je schneller mir et schaffe, um so beister; vielleicht gibt es noch ein paar Pfennige Sonderprämie". Und keilt seinen Schlegel in einen schweren Erzbrocken.

Ununterbrochen erschüttern schwere Hammerschläge den Stollen. Jedesmal poltern jetzt schon größere größere Klumpen von der Decke, begleitet von ganzen Sturzbächen des gefürchteten Grubenwassers,  das unkontrollierbar sein kann und bei Versagen der Pumpen den Stollen absaufen lässt, wie vor einigen Monaten auf der Sohle 120 m geschehen. Damals mussten sich die Männer eiligst über die Eisenleitern eines Aufhaus in Sicherheit bringen.

Aller Gefahren ungeachtet geht die Arbeit weiter. Da auf einmal scheint der Berg zu beben und zu ächzen

Vergrößerter Bleiglanzoktaeder von der Grube Glückstal in der Eifel

                             

                                                                  
Knirschend und polternd bricht die Decke des Stollens über ihnen ohrenbetäubend herab. Sie können  gerade noch bis an die Wand des Gangendes stürzen.Die Männer müssen in der Finsternis beklommen und entsetzt feststellen, dass sie zwar davongekommen, jedoch vom rettenden Ausgang abgeschnitten und nur im wenige Meter Durchmesser kleinen Hohlraum gefangen sind.Der Gang ist durch riesige Geröllmassen versperrt. Bis auf einige Schrammen sind sie zwar unverletzt, aber es bleibt für die Eingeschlossenen nur wenig Sauerstoff und die kleine Hoffnung, dass sie rechtzeitig befreit werden können, bevor sie qualvoll ersticken.  

Der Reviersteiger schlägt entsetzt die Hände vor sein Gesicht,  als er das Ausmaß des Unglücks erkennt. Die Hauer in seiner Nähe fragen sich erschrocken, ob ihre Kameraden da vorne noch leben.Sie befürchten alle das Schlimmste. Der Bergsturz erstreckt sich auf einer Länge von 20 Metern.Fieberhaft beginnen sie,  mit ihren bloßen Händen im Gesteinsschutt zu wühlen und Geröll wegzuräumen. Der Einsatz des Presslufthammers oder gar eine Sprengung der Hindernisse verbieten sich wegen der Erschütterungen und weiterer Einsturzgefahr.  




Tafeliger Calcit (vergrößert) von der Grube Glückstal/Eifel
                                                                     

" Sprengmeister , schnell, sag oben Bescheid und hol Hilfe, und dass die Frischluftzufuhr auf Hochtouren arbeitet. Vielleicht kann durch Ritzen und Hohlräume durch den Gesteinsberg wenigstens etwas Sauerstoff nach vorne eindringen.Der Angesprochene rennt los und kommt keuchend am Fahrschacht an,  wo er in den leeren Förderkorb springt und bald oben anlangt. Er eilt sofort zum Maschinisten und lässt diesen Alarm geben.
Die schrille Alarmglocke dröhnt durch den Winterhimmel und lässt die Menschen in dem armen Eifeldorf erschauern.Sie wissen nur zu gut, was das bedeutet.Es ist ein Unglück im Berg geschehen,  und es steht das Leben ihrer Männer und Väter auf dem Spiel. Hier kennt jeder jeden, Freude und Leid schweißen sie in ihrem kargen Dasein zusammen. In fast jeder Familie ist der Bergmannsberuf Tradition.

Bald nach dem Alarmzeichen laufen die Männer der dienstfreien Schichten noch schlaftrunken mit irgend einem Gerät zum Förderturm hinunter, immer wieder knietief im hohen Schnee einsinkend. Kräftige Hände laden rasch einige Seilwinden auf einen  Ochsenkarren. Auch in den anderen Dörfern des Kirchspiels vernehmen sie das Alarmsignal, dessen Heulton schauerlich von den Bergen zurückhallt.  Sofort spannen sie überall Wagen mit Pferden oder Ochsen an,  um auch zur Hilfe zu eilen. Unter ihnen sind auch der einzige Arzt des Höhengebietes  und der Pfarrer,  die den Hilfstrupp begleiten.

Unter Tage versuchen die Retter verzeifelt,einen Durchlass in die Geröll- und Schlammmassen zu bahnen. Der dabei aufgewirbelte Staub und die Enge des Stollens, dazu die hohe Luftfeuchtigkeit,  erschweren die Arbeit. Die abgearbeiteten Hände der Helfer sind bald von scharfen Kanten aufgerissen. In dieser Lage erweist sich der Einsatz des Grubenpferdes Fritz als wertvoll.Immer wieder werden mit seiner Hilfe große Felsbrocken beiseite geräumt und weggezogen. Endlich treffen die herbei geeilten und sehnlich erwarteten Hilfsmannschaften ein. Sie bringen die dringend benötigten Seilwinden mit. Viele Hände helfen,  aber ein Vorwärtskommen ist wegen der Enge und schwierigen Bedingungen nur langsam möglich.

Die Eingeschlossenen kauern tief am Boden hockend. Sie wagen kaum miteinander zu sprechen,  denn dadurch geht wertvoller und knapper sauerstoff verloren. Dazu sind sie in ständiger Dunkelheit gefangen,  denn bei ihrer eiligen Flucht mussten sie die Grubenlampen zurücklassen. Mit tropfendem Wasser an den Wänden können sie wenigstens ihren Durst löschen.Sie schließen die Augen, denken an zu Hause und ihre Angehörigen und beten.
So verrinnen die Stunden in qualvollem Warten.

Der Pfarrer ist nach kurzem Gebet für die Verschütteten zur Kirche zurückgekehrt und lässt die Glocken läuten. Jetzt hilft nur noch das gemeinsame Gebet um Hilfe und den Beistand des Himmels. Es dunkelt bereits an diesem Tage des Heiligen Abends, aber bald füllt sich das altehrwürdige Gotteshaus mit betenden Frauen, Kindern und alten Menschen.Die Weihnachtsbäume hinter dem Hochaltar und die aufgestellte Krippe von dem Geschehen der Heiligen Nacht bleiben dunkel. Fürbitten,  Psalme und Rosenkranzgebete erfüllen das nur spärlich erleuchtete Kirchenschiff.

Der Pfarrer verkündet von der Kanzel, dass die Christmette bis zur Auffindung der verschütteten Männer verschoben wird.

In der Tiefe des Berges kämpft der Rettungstrupp verzweifelt um das Leben der eingeschlossenen Kumpel.  Nach jeder Viertelstunde lassen sich die bis zur Erschöpfung Arbeitenden gegen eine eine neue Gruppe austauschen.

Es ist schon bald Mitternacht und kaum die Hälfte der Trümmer aus dem Weg geräumt. Ans Feiern denkt in diesem Moment niemand mehr. Die Uhr läuft unerbittlich ab.  Hoffentlich kommen sie nicht zu spät,  diese bange Frage treibt sie unermüdlich an. Dabei muss man auch an die eigene Sicherheit denken und nicht weitere Menschenleben in Gefahr bringen.
Zum notwendigen Abstützen lässt der Reviersteiger aus alten Verbaustrecken Stützpfeiler herausbrechen, wo sie entbehrlich erscheinen, und herbeiholen.

In dem kleinen Hohlraum geht der Sauerstoffvorrat langsam zur Neige. Aufkommende Müdigkeit weist auf das nahe Ende hin.  "Nur nicht einschlafen", fleht der Älteste und rüttelt die apathischen Männer wach. " So Gott will, sind wir nicht verloren.Wir dürfen nicht verzweifeln und aufgeben."

Schon dämmert der herannahende Morgen des Weihnachtstages. Niemand denkt in dieser Nacht im Dorf an Schlaf, nur die Kleinsten finden Ruhe. In der Kirche folgt eine Litanei der anderen. Man fleht die hl. Barbara,  die Schutzpatronin der Bergleute,  um Hilfe und Beistand an. Die Familienangehörigen der Verschütteten haben die Plätze in den vordersten Reihen eingenommen,  die sonst den Dorfhonorationen wie dem Bürgermeister  (Ortsvorsteher genannt) und Bergwerksdirektor,dem Gendarmen, dem Schullehrer und dem Arzt vorenthalten sind.
Ihre verhärmten und verweinten Gesichter sind von Schmerz, Trauer und Verzweiflung gezeichnet,  denn langsam,  das ahnen alle, läuft die Uhr für eine erfolgreiche Rettung ab.  Würde an diesem Weihnachtstag die schwarze Fahne am Förderturm wehen?

Unter Tage geht der Kampf mit den Schuttmassen ununterbrochen und pausenlos weiter. Auch das alte Grubenpferd ist unermüdlich im Einsatz. Instnktiv scheint es zu spüren, dass es um die Rettung von Leben geht.Zentnerschwere Felsbrocken zieht es mit den Seilwinden aus dem Geröllinferno. Der Reviersteiger,  sich seines Versagens bewusst,  gönnt sich keine Rast und weicht nicht einen Augenblick von der Unglücksstelle.  Er leitet den Einsatz der Rettungsmannschaften und packt auch selbst mit an, wenn jemand erschöpft zurückweicht.

Die Uhr zeigt jetzt acht. Aussicht auf Rettung besteht kaum noch. Noch trennen sie einige Meter  voim Ende des Bergsturzes.Der Reviersteiger überlegt fieberhaft nach einem rettenden Ausweg. Bis zum entscheidende Durchbruch können weitere kostbare Stunden vergehen. Aber wie soll man die Verschütteten  und Eingeschlossenen mit dem lebensnotwendigen Sauerstoff versorgen? Da kommt ihm urplötzlich die Idee mit dem Suchbohrer,  dessen Bohrgestänge mehrere Meter lang ist. Er gibt sofort Anweisung, diesen aus dem Materialdepot heran zu schaffen.  Alle begreifen,  ohnezu fragen, sofort den Sinn der Aktion.  Obwohl selbst todmüde,  hastet der Sprengmeister die 1 Kilometer  lange Strecke durch den spärlich  erleuchteten Stollengang zu dem von ihm verwalteten Depot. Er wuchtet den Zentner schweren und etwa fünf Meter langen Eisenbohrer auf seine kräftige Schulter und geht schweren Schritts mit keuchendem Atem den Weg zurück. Da kommen ihm auch schon mehrere Burschen entgegen, die an den Enden des Bohrgeräts mit anfassen, so dass sie schneller vorwärts kommen.  So erreichen sie bereits nach wenigen Minuten den Unglücksort.  Zahlreiche Hände greifen nach dem riesigen Bohrer, und bald beginnt dieser,  mit geballter Kraft getrieben, sich knirschend in den Gesteinsschutt zu fräsen. Unermüdlich drehen schmerzende, Staub verkrustete und blutende Hände das stählerne Gewinde. Die Minuten verrinnen,  und langsamer und mühsamer werden die Drehungen.Bald müsste es geschafft sein, denn das Gewinde des Bohrers hat nur noch einen knappen Spielraum,  als dieser nach einem kurzen Ruck ins Leere stößt.

Die Eingeschlossenen in ihrem dunklen Verlies erwachen aus ihrem durch den akuten Sauerstoffmangel verursachten Dämmerzustand durch den aufgewirbelten Staub und den feinen Luftzug.Sie begreifen,  dass ihre Rettung bevorsteht.Gierig nehmen ihre Lungen den einströmenden Sauerstoff auf.Mit letzter Kraft klopfen sie mit Steinbrocken gegen das Metall des Bohrers.Jetzt bemerken auch die Retter vor der Gesteinsbarriere die Klopfzeichen.

" Hurra,  sie leben,  wir haben es geschafft", hallt es erlösend vielstimmig durch den Berg.  Eine grenzenlose Freude schafft sich jubelnd nach den vielen Stunden  anstengender Rettungsarbeit Luft. Schon rennen einige Richtung Stollenausgang los,  damit die Kunde, dass es Überlebende gibt,oben im Dorf und den Angehörigen bekannt wird. Bald erreicht die frohe Nachricht die Betenden in der Kirche. " Sie Leben". Die Angehörigen werfen sich schluchzend auf die Knie oder umarmen ihre Nachbarn vor Freude. Noch weitere 2 Stunden dauert es, bis der gröbste Schutt beiseite geräumt ist und die Bergung der Eingeschlossenen durch einen schmalen Durchlass möglich wird. Alle haben das Unglück lebend überstanden. Niemand ist ernstlich verletzt, nur die Erschöpfung fordert Tribut. Als erste erreichen der Bergwerksdirektor und der Reviersteiger die Geretteten. Stumm und mit Tränen in den Augen reichen sie den 4 Männern die Hand.

Man bringt die Geretteten sofort ans Tageslicht,wo sie als erstes ärztliche Versorgung und flüssige Nahrung erhalten.
Als Dank und Anerkennung für die geleisteten Dienste beschließt die Bergwerksleitung, dem Grubenpferd Fritz die Freiheit und das Gnadenbrot über Tage zu schenken und statt Pferdekraft die Grube zukünftig durch den Einsatz einer elektrischen Zugmaschine zu modernisieren.

In der Kirche haben Dankeslieder und Lobpsalmen das flehende Bitten abgelöst.Hell klingen jetzt die Glocken der Pfarrkirche übers Eifelland, die glückliche Rettung und Weihnachten verkündend. Bald stimmt auch der ferne Klang der Glocken in den Nachbarpfarreien mit ein.

Die Landschaft erstrahlt auf einmal in hellem Sonnenlicht. In der überfüllten Kirche leuchten jetzt die Kerzen der Weihnachtsbäume in nie gekanntem Glanz. Nach einer Stunde sind die geretteten Bergleute und die Retter soweit von den Strapazen erholt, dass die verspätete Christmette am Vormittag des 1. Weihnachtstages beginnen kann.

Die Geretteten und die vielen Helfer streben jetzt dem Gotteshaus zu, um für die glückliche Rettung zu danken und verspätete Weihnachten zu feiern. Sogar der Reviersteiger hat sich ihnen angeschlossen. Er ward fortan ein frommer Mann. Gemeinsam stimmen sie das Lied " Stille Nacht, Heilige Nacht" an. Ergriffen,  froh und mit dankbarem Herzen singen alle mit.

Zum Schluss der Messe singt der Bergmannsknappenchor noch ein altes Bergmannslied, das einer der ihren vor Generationen schrieb:




                                Wir tragen alle ein Licht durch die Nacht
                                                       unter Tag
                                                Wir träumen von unerschöpflicher Pracht
                                                       über Tag
                                                Wir helfen ein Werk tun, ist keins ihm gleich
                                                       Glück auf!
                                                 Wir machen das Erdreich zum Himmelreich,
                                                       Glück auf!
                                                 Einst fiel alles Leben vom Himmel herab
                                                       über Tag
                                                 Wir Bergleute schürfen`s aus dem Grab
                                                        unter Tag
                                                 Wir fördern`s herauf, das tote Gestein,
                                                        Glück auf!
                                                  Wir machen`s wieder zu Sonnenschein,
                                                         Glück auf!
                                                  Auf Erden ist immerfort Jüngstes Gericht
                                                        unter Tag
                                                  Aus Schutt wird Feuer, wird Wärme,wird Licht
                                                        über Tag
                                                  Wir schlagen aus jeglicher Schlacke noch Glut,
                                                        Glück auf!
                                                  Wir ruhen erst, wenn Gottes Tagwerk ruht,
                                                        Glück auf!

Anmerkung Verfasser: Dieses Gedicht aus dem Nachlass eines Eifeler Bergmanns stammt nicht von diesem bzw. ist dem Dichter Richard Dehmel zuzuschreiben !Davon erhielt ich erst jetzt im Jahr 2019 Kenntnis.
zu S, 123 : Da mir die damalige Zeichnung nicht mehr vorliegt, wurde das Motiv durch ein themengleiches Foto ersetzt.
                                   
                           
                                                   
                                                   

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